Neue Perspektiven auf die deutsch-jüdische Geschichte.

(05.10.2020)

Auftakt zum großen Extended Reality-Projekt in Seesen.

Der Kulturraum zwischen Harz und Heide besitzt als Wiege der jüdischen Modernisierung und des Reformjudentums ein Erbe von besonderer Qualität. Das Liberale Judentum ist die weltweit größte jüdische Strömung der Gegenwart. Doch leider ist diese Bedeutung in Deutschland bislang nahezu unbekannt. Dies soll ein Projekt des Israel Jacobson Netzwerkes auf innovative Weise ändern. Mithilfe einer Kombination von crossmedialer Inszenierung (sog. Extended Reality), Gamification, Storytelling und Social Media soll der Jacobstempel in Seesen, als erste Reformsynagoge der Welt, zusammen mit der Jacobson Schule, einer frühen jüdischen Reformschule,  rekonstruiert werden. Für die Nutzer werden damit die Geschehnisse von damals im Heute in ganz neuer Form, auf geradezu spielerische Weise erlebbar.

Dr. Felix Klein, Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung und einer der Förderer des Projektes, erörtert: „Mit der virtuellen Rekonstruktion des Jakobstempels macht das Projektteam des Israel Jacobson Netzwerks eine ganz wichtige Facette jüdischer Geschichte sichtbar und durch ein innovatives Vermittlungskonzept auch für junge Menschen attraktiv. Diesen Aspekt halte ich für besonders relevant, denn die junge Generation wird die Zukunft des deutsch-jüdischen Lebens gestalten. Sie einzubinden und an das deutsch-jüdische Leben heranzuführen, ist eine wichtige Aufgabe, der Sie sich angenommen haben. Ich bin mir sicher, dass es Ihnen gelingen wird, bei vielen Menschen aller Altersgruppen Interesse für die facettenreiche, spannende Geschichte deutsch-jüdischen Lebens und die Ideen des Reformjudentums wecken.“

Geschichte nahbar machen
Die Herausforderung ist, dass die bauliche Keimzelle des Reformjudentums – der Jacobstempel in Seesen – von den Nationalsozialisten in der Pogromnacht 1938 unwiederbringlich zerstört wurde. Die ebenfalls mitten in der Seesener Innenstadt liegende Jacobsonschule, in deren Innenhof sich die Reformsynagoge befand, ist nur noch teilweise erhalten. Die digitale Anwendung soll helfen, zerstörte Geschichte zum Leben zu erwecken und einen Impuls setzen, die Orte persönlich entdecken zu wollen. Dr. Jörg Munzel, Projektleiter und Vorstand des IJN, führt aus: „Gerade für jüngere Menschen sind digitale Zugänge Teil ihrer Lebenswirklichkeit geworden. Sie sind über klassische Angebote kaum noch zu erreichen. Durch unser Pilotprojekt soll ein neues Format moderner Wissensvermittlung entwickelt werden, dass es so noch nicht gibt. Dabei interagieren reale und digitale Welt, reale und digitale Personen in vorher nie gekannten Weisen miteinander. Das kann und soll auch großen Spaß machen. Die Anwendung, die im Februar 2021 launchen wird, kann als App kostenlos für Nutzer überall auf der Welt wie auch für Besucher vor Ort über das eigene Smartphone oder Tablet abgerufen werden.“

Ein Spiel, das lehrt
Im Projekt dient die Technologie der Geschichte. Virtuelle Personen aus der Zeit führen die Besucher auf erzählerische Weise durch das bauliche Ensemble und vermitteln gleichzeitig die Bedeutung von Jacobsons Wirken. Authentizität gewährleisten Originalquellen. Der Gamification-Ansatz fördert dabei beim Nutzer die Lust auf das Entdecken, er folgt in der App keiner linearen Erzählstruktur. Jeder entwickelt seine eigene Variante der Geschichte. „Die Digital Natives sind in ihrem Umgang mit Inhalten stark erlebnisorientiert. Sie wollen Teil der Geschichte sein, indem sie ihre Vorstellungen mit einbringen und sie weitererzählen können. Das wundervolle daran ist, dass dies durch intrinsische Motivation geschieht: Die Auseinandersetzung mit Inhalten ist dabei auf einem ganz neuen Level an Intensität und Nachhaltigkeit.“, sagt Bernard Bettenhäuser, Creative Director und XR-Spezialist des Projekts.

Das anspruchsvolle Projekt ist ein neuer Baustein der Wissensvermittlung jüdischer Geschichte in der Gegenwart und auch Zukunft. Ein interdisziplinäres Team von Judaisten, Bauhistorikern und Historikern des IJN erarbeitet und gewährleistet die Wissenschaftlichkeit der transportierten Inhalte. Das Pilotprojekt wird auch mit Mitteln des Niedersächsischen Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit, Verkehr und Digitalisierung in Hinblick auf die kulturtouristische Bedeutung gefördert. „Für das Wirtschaftsministerium steht hier die Digitalisierung von touristischen Produkten im Mittelpunkt. Für uns ist es interessant zu erproben, ob es gelingen kann, physisch nicht (mehr) vorhandene touristische Orte mit Hilfe der XR-Technologie zu inszenieren – in diesem Fall anhand der Stadt Seesen und ihrer Synagoge. Des Weiteren ist es von ganz besonderem Landesinteresse zu erfahren, inwieweit es mittels der zielgerichteten Kombination der neuen Technologien gelingen kann, insbesondere die jüngeren Zielgruppen für ein inhaltlich eher schwer zugängliches Thema zu begeistern, dieses entsprechend zu transportieren und schließlich touristisch zu nutzen“, erklärt Dr. Berend Lindner, Staatssekretär im Niedersächsischen Ministerium für Wirtschaft, Arbeit, Verkehr und Digitalisierung.